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COLM TÓIBÍN

 

NORA WEBSTER

 

Die Vierte im Bunde

 

Im Werk des irischen Schriftstellers Colm Tóibín stehen Muttergestalten häufig im Mittelpunkt, so auch in seinem neuen Roman «Nora Webster», bei dem schon der Titel selbstbewusst das literarische Genre verdeutlicht. Es geht um die Selbstfindung einer Frau Mitte vierzig nach dem viel zu frühen Tode des Mannes. In etlichen Details dieser Geschichte sind autobiografische Hintergründe erkennbar, so zum Beispiel beim Schauplatz der Handlung, die Kleinstadt Enniscorthy der irischen Grafschaft Wexford, Tóibíns Heimat. Und auch sein eigener Vater war ein politisch engagierter Lehrer, nach dessen frühem Tod er zu stottern anfing - wie der älteste Sohn im Roman. Die Titelheldin durchlebt gemeinsam mit ihren vier Kindern den schockartig einsetzenden, mühsamen Prozess einer radikalen Umstellung ihrer Lebensführung, die Verantwortung für das bisher vorbildlich geordnete und wohlbehütete Leben liegt nun unerwartet plötzlich bei ihr allein, sie muss ein neues Fundament dafür schaffen.

 

Diese Geschichte einer Emanzipation wird in kleinsten Schritten vor dem zeitlichen Hintergrund des Nordirlandkonfliktes Ende der 1960er Jahre erzählt, beginnend beim qualvollen Sterben des Mannes bis hin zur Räumung seines Kleiderschranks drei Jahre später, die eine bis dato ängstlich vermiedene, symbolträchtige Loslösung aus der rückwärtsgewandten Trauerphase darstellt, Voraussetzung für ein zukunftsorientiertes, nunmehr völlig selbst bestimmtes Leben. Detailliert beleuchtet der Autor ein weit verzweigtes, engmaschiges Beziehungsgeflecht im inneren Zirkel einer großen Familie wie auch im Zusammenleben mit den Nachbarn und Bewohnern dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und man ständig unter Beobachtung steht. Tóibíns eindringliches Porträt einer selbstbewussten, mutigen, manchmal auch störrischen Hausfrau glänzt mit einer äußerst subtilen Schilderung der Banalitäten ihres Alltags. Er seziert geradezu sein Kleinstadtmilieu, um dann liebevoll das zutiefst Menschliche darin aufscheinen zu lassen, ganz fernab spektakulärer Posen und großartiger Geschehnisse.

 

Besonders hervorzuheben ist die fein ziselierte Darstellung der Figuren, allen voran der Protagonistin Nora Webster, deren innerste Gedankenwelt Tóibín als auktorialer Erzähler stimmig vor dem Leser offenlegt, was die Epiphanie ihres verstorbenen Mannes als traumhaftes Erlebnis durchaus mit einschließt. Auch die vielen anderen Charaktere sind glaubwürdige und sympathische Figuren, deren Psyche sich oft in realitätsnahen Dialogen erschließt. Überhaupt ist Realitätsnähe eine der vielen Stärken dieses Romans, was mir gleich zu Beginn bei der ungeschönten Schilderung des bescheidenen Strandhäuschens der Familie Webster angenehm aufgefallen ist. Nicht der Plot also steht im Mittelpunkt des irischen Autors, es ist das sich mosaikartig entwickelnde Panorama eines überschaubaren Mikrokosmos, überaus ruhig und unspektakulär erzählt, sprachlich gekonnt und völlig unprätentiös, eine ebenso großartige wie seltene Beschreibungskunst.

 

Insoweit ist das positive, sogar euphorische Echo im deutschen Feuilleton berechtigt, zweifellos ist «Nora Webster» auf dem Weg, einer der Frauennamen in der Literatur zu werden, die man sich merken wird. Nicht nachvollziehbar allerdings ist der Vergleich mit den berühmten Figuren von Tolstoi, Flaubert und Fontane. Anna, Emma und Effi nämlich sind alle drei Ehebrecherinnen, die tragisch enden, - nicht so Nora, sie ist insoweit nicht die Vierte im Bunde! Sexualität, Ehebruch gar kommen schlicht nicht vor bei Tóibín, und seine Heldin geht zuletzt als überlegene Siegerin aus dem Trauerprozess hervor, sie hat sich emanzipiert, ohne kitschiges Happy End übrigens. In einem symbolträchtigen Akt der Selbstfindung nämlich verbrennt sie, gemütlich vor dem Kamin sitzend, am Ende des Romans die wieder aufgefundenen Briefe ihres Mannes aus der Anfangszeit ihrer Beziehung, - ohne sie jedoch nochmals zu lesen. Eine starke Figur, die man nicht mehr vergisst.

 

5* erstklassig - Bories vom Berg - 22. Dezember 2016

 

 

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