Autoren     Buchtitel

 

VLADIMIR VERTLIB

 

LUCIA BINAR

 

UND DIE RUSSISCHE SEELE

 

Psychotherapeut ohne Waffenschein

 

Der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib hat in seinem 2015 publizierten Roman «Lucia Binar und die russische Seele» nach der Migration als autobiografisch grundierte Thematik hier ein eher gesellschaftskritisches Thema aufgegriffen. Seine Geschichte ist im zweiten Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt angesiedelt, einst Zentrum des jüdischen Lebens in Österreichs Hauptstadt. Aber auch hier prägen die russisch-jüdischen Wurzeln des Autors wieder seinen Erzählstoff, «Ich habe mich bemüht, die einzigartige, gleichsam irritierende wie inspirierende Atmosphäre des zweiten Bezirks in meinem Roman einzufangen». Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis bedeutete für ihn, wie er bekannte, «eine große Bestätigung für mein Schreiben, die mir auch viel Kraft für die Zukunft gibt».

 

In zwei Handlungssträngen entwickelt Vladimir Vertlib seine amüsante Geschichte um eine 83jährige ehemalige Lehrerin, die von einem androgynen Wesen an der Wohnungstür um ihre Unterschrift für eine Petition gebeten wird. Lucia Binar ist empört, will doch eine örtliche Anti-Rassismus-Initiative aus falsch verstandener Political Correctness ernstlich die Große Mohrengasse, in der sie von Geburt an wohnt und auch zu sterben gedenkt, in Große Möhrengasse umbenennen lassen. Die schlagfertige alte Dame verweigert mit bissigen Bemerkungen ihre Unterschrift und schickt den Aktivisten empört weg, nicht ohne das androgyne Wesen vorher noch nach seinem Vornamen gefragt zu haben. Moritz ist Student, und wie sich schon bald herausstellt, ein netter, hilfsbreiter Mensch, mit dem sie sich bald anfreundet und später sogar duzt. Und er steht ihr dann auch bei, als ihr gewissenloser Vermieter auf perfide Art versucht, durch kostenlose Überlassung bereits lange leerstehender, heruntergekommener Wohnungen an üble, asoziale Störenfriede die Altmieter aus dem Haus zu ekeln, um es nach einer Luxus-Sanierung dann teuer wieder neu vermieten zu können. Diese Handlungsebene wird von der resoluten Ich-Erzählerin mit dem wahrhaft denkwürdigen ersten Satz eingeleitet: «Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben».

 

Von einem auktorialen Erzähler werden in der zweiten Handlungsebene weitere zum Teil sehr skurrile Figuren eingeführt. Zu denen gehört auch die unfreundliche Call-Center-Dame, bei der sich Lucia Binar über die ausgebliebene Lieferung von ‹Essen-auf-Rädern› beschwert hatte. Mit der hat sie noch ein Hühnchen zu rupfen, weiß aber leider nur ihren Vornamen, und wie sich bald herausstellt, gibt es nicht weniger als sechs Mitarbeiterinnen mit dem Namen Christine. Die sucht sie nun alle nacheinander auf, wobei Moritz sie begleitet. In einem turbulenten, slapstickartigen Plot münden die eng ineinander verschlungenen Handlungsfäden in ein ins Absurde abgleitendes Finale, bei einer wahrlich aberwitzigen Séance ist Viktor Viktorowitsch Vint die zentrale Figur. Nach eigenem Bekunden «Magier, Vermittler von Selbsterfahrungen, Experte für die russische Seele, Psychotherapeut ohne Waffenschein, also ein Scharlatan auf hohem Niveau», oder, wie er an anderer Stelle beschrieben wird, «eine Mischung aus Rasputin und Wladimir Kaminer». Er erinnert den Leser ein bisschen an Bulgakows faunische Figur ‹Wolant› in «Meister und Margarita».

 

Mit viel schwarzem Humor und in den soziologischen Aspekten oft sarkastisch wird hier leichtfüßig eine Geschichte erzählt, deren realistische Komplexität aber im Verlauf immer deutlicher wird. Ziemlich störend sind die vielen eingestreuten Lyrik-Zitate, die sich einem überzeugten Prosaleser kaum erschließen können. Sogar die Protagonistin Lucia Binar ist lyrikbegeistert und vermag bei Gelegenheit jeweils einige passende Gedichtzeilen zu rezitieren. Größte Stärke des Romans ist jedenfalls diese zentrale Figur, die sich ebenso tapfer wie schlau allen Widrigkeiten entgegenstellt und schlagfertig niemandem eine - oft ironische - Antwort schuldig bleibt, man kommt aus dem Schmunzeln kaum noch raus als Leser.

 

3* lesenswert - Bories vom Berg - 18. April 2020

 

 

© Copyright 2020

 

 

     Autoren     Buchtitel