JARMILA
Die Novelle «Jarmila» des in Brünn geborenen und zum Kreis um Franz Kafka gehörenden Schriftstellers Ernst Weiß wurde im Sommer des Jahres 1937 in Paris geschrieben. Der dort im Exil lebende jüdische Autor hatte sich 1940 beim Einmarsch der deutschen Truppen das Leben genommen, viele seiner unveröffentlichten Manuskripte gingen verloren. Ein Typoskript von «Jarmila» mit dem ironischen Untertitel «Eine Liebesgeschichte aus Böhmen» wurde jedoch 1995 in Prag entdeckt und posthum erstmals veröffentlicht. Dieses späte Werk ist eine berührende Reminiszenz an die innig geliebte, für ihn damals aber unerreichbare böhmische Heimat des Autors. «Die Novelle ‹Jarmila› ist eine Ihrer stärksten», hat sein Freund und Gönner Stefan Zweig in einem Brief dazu angemerkt. Die Titelfigur gehört zur Gruppe jener Frauengestalten, die als Femme fatale im Werk dieses Autors häufig vorkommen.
Ich-Erzähler ist ein in Paris lebender Obsthändler, der geschäftlich nach Prag reist. Seine vor Reiseantritt in Paris gekaufte, billige Taschenuhr erweist sich als extrem launisch, er verpasst ihretwegen seinen Geschäftspartner. Im Café wartend lernt er den Spielzeughändler Bedřich kennen, der sich als geschickter Uhrmacher anbietet, die störrische Uhr zu reparieren, was aber misslingt. Sie kommen ins Gespräch, und Bedřich erzählt ihm von seiner schicksalhaften Liebe zu Jarmila, die mit einem deutlich älteren Bauern verheiratet ist, der sich auf Gänsefedern spezialisiert hat und damit viel Geld verdient. Seinen Spitznamen Bombardon trägt er, weil er in der dörflichen Kapelle die Basstuba spielt. Bedřichs Affäre mit der Dorfschönheit bleibt nicht ohne Folgen, sein Sohn Jaroslaus wird geboren. Als er mit ihr und dem Kind nach Amerika auswandern will, lehnt Jarnila das allerdings strikt ab, sie genießt ihr Leben an der Seite des wohlhabenden Bombardon. Es gelingt dem hörigen Bedřich nicht, sich von ihr zu trennen, im Gegenteil, sie bezirzt ihn immer wieder und wird erneut schwanger von ihm. Erbost baut der gehörnte Ehemann daraufhin heimlich eine Falltür in das als Liebesnest dienenden Lager für Gänsefedern ein. Bei einem letzten Stelldichein unmittelbar vor seiner geplanten Auswanderung legt Bedřich zur Ablenkung Feuer in Bombardons Scheune, zwei Landstreicher sterben darin. Die schwangere Jarmila stürzt im Liebesnest durch die Falltür zu Tode, Bombardon aber geht straffrei aus. Bedřich hingegen kommt für fünf Jahre ins Zuchthaus, und als er entlassen wird, entführt er seinen Sohn, mit dem er nun auswandern will. Er taucht auf der Durchreise überraschend mit Jaroslaus beim Ich-Erzähler in Paris auf. Aber es kommt alles ganz anders als geplant.
Mit der als äußerer Rahmen dienenden Ich-Erzählung huldigt der Autor, erkennbar autobiografisch beeinflusst, liebevoll seiner böhmischen Heimat und schließt die dörfliche Liebesaffäre als Kerngeschichte darin ein. Das schicksalhafte Verhängnis der Erzählung wird an vielen Stellen schon früh angedeutet und hält den Leser in Spannung. Geradezu leitmotivisch fungiert dabei die unzuverlässige Taschenuhr, aber auch Begriffe wie Grenze oder Feder kehren ebenfalls ständig wieder. Letztere als kuscheliges Symbol für das heimliche Liebesnest im Lagerschuppen von Bombardons Gänsefedern, aber auch in Form der Uhrenfeder, die dann in dem katharsisartigen, dramatischen Finale eine verhängnisvolle Rolle spielt.
Atmosphärisch dicht evoziert Ernst Weiß in seiner inneren Erzählung von der böhmischen Dorfidylle Lebensumstände und Werte einer «alten, von uns geliebten Welt», wie er sie Stefan Zweig gegenüber genannt hat. In seinem für ihn wenig erfreulichen, prekären Exildasein schafft er damit literarisch ein Gegengewicht zu den sich abzeichnenden Ungeheuerlichkeiten der Nazi-Barbarei, die er früh schon vorausgeahnt hatte. Angesichts der literarischen Qualität dieser geradezu klassisch angelegten Novelle kann man sich nur freuen, dass sie doch noch aufgefunden und veröffentlicht wurde.
4* erfreulich - Bories vom Berg - 24. Juni 2019
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