REISE AN DEN RAND
DES UNIVERSUMS
Nach seiner quasiautobiografischen Trilogie über Mutter, Vater und sich selbst hat Urs Widmer nun mit «Reise an den Rand des Universums» auch noch eine richtige Autobiografie geschrieben. Die umfasst zwar nicht sein ganzes Leben, sondern nur die ersten dreißig Jahre, aber es könnte ja sein, dass da noch etwas nachkommt bei dem inzwischen 75jährigen Schweizer Autor. Seinem selbstironischen ersten Satz in diesem Buch, «Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie», folgt auch gleich eine Erklärung nach, denn damit wäre das Pulver verschossen, «alles Material verbraucht», wie er schreibt. In einem Interview hatte er über sein Buch gesagt, es sei aus einem «heftigen Gefühl des letzten Buches» heraus entstanden, eine fürwahr fatalistische Formulierung. Die allem autobiographischen Schreiben eigene Problematik der schwierigen Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion wird gleich zu Beginn des Buches thematisiert, und der Autor kommt zu dem Schluss, «dass alles Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist». Als jemand, der selbst eine Autobiografie geschrieben hat - komplett allerdings, so weit das möglich ist - sind mir seine diesbezüglichen Überlegungen tatsächlich nicht ganz fremd.
Und so lässt Widmer unbekümmert um die Realität seine Lebensgeschichte bereits mit der Zeugung beginnen, was streng medizinisch gesehen ja durchaus berechtigt ist und von ihm genüsslich und humorvoll vor uns ausgebreitet wird. Überhaupt ist eine der Stärken dieses Erinnerungsbuches der lockere Plauderton des Erzählers, der seine eigene Lebensgeschichte weder streng chronologisch noch lückenlos aufgeschrieben hat, sondern als eine Abfolge von Anekdoten, amüsanten wie ernsten und nachdenklich machenden. Das Geschehen ist gut beobachtet und treffsicher in Sprache umgesetzt, leicht lesbar und angenehm unmanieriert. Probleme machten, mir jedenfalls, die zahlreichen Begleit- und Randfiguren, deren Namen, will man immer alles ganz genau zuordnen können, das Anlegen eines Spickzettels sinnvoll macht. Zuweilen hat der Autor da selbst so seine Probleme, wenn ihm ein Name partout nicht mehr einfallen will, wie er freimütig bekennt.
Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert, die jeweils einen Zehnjahreszeitraum umfassen zwischen seinem Geburtsjahr 1938 und der Fertigstellung seiner Erzählung «Alois» 1968, dem Jahr, in dem ein «big bang», wie er formuliert, «eine wirkungsmächtige Reform» in Gang gesetzt hat. Jedem der drei Kapitel folgt ein kursiv gedruckter Abschnitt, in dem die gesellschaftlichen Geschehnisse kurz zusammengefasst sind, die für die Dekade prägend waren, das Buch ist insoweit auch als interessantes Zeitzeugnis anzusehen. Der ungeschönte Blick auf sich selbst und seine Familie erzeugt beim Leser zuweilen Betroffenheit. Da ist der chronisch kranke, gnadenlos egoistisch erscheinende Vater, ein Kettenraucher, der sich ständig in seinem Arbeitszimmer geradezu verbarrikadiert, eine Zurückgezogenheit, die ihn, Ironie des Schicksals, eines Tages einen einsamen Tod sterben lässt. Die Mutter ist depressiv und des Öfteren in psychiatrischen Krankenhäusern, wobei Widmer an einer Stelle dazu kurz erwähnt, dass sie später, außerhalb seiner Berichtszeit, Selbstmord begangen hat. Und er selbst litt zeitweilig auch an Depressionen, wie er unverhohlen bekennt.
Eine gewisse Melancholie ist also auch vorhanden, dominierend aber sind die eher vergnüglichen Schilderungen, eine kurzweilige Lektüre also. Deren viele sehr persönliche, manchmal auch banale Details dürften jedoch nicht alle interessant sein für die Leser, auch wenn sie ungemein eloquent erzählt werden. Und da, wo das Buch dann endet, beginnt es ja eigentlich erst richtig interessant zu werden, Widmers Zeit als Suhrkamp-Lektor und späterer Schriftsteller, der Blick hinter den Vorhang des Literaturbetriebs. Man kann wohl nicht alles haben!
3* lesenswert - Bories vom Berg - 31. Januar 2014
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