DIE BRÜCKE
VON SAN LUIS REY
Schon mit seinem zweiten Roman «Die Brücke von San Luis Rey» gelang dem US-amerikanischen Autor Thornton Wilder 1927 der Durchbruch als Erzähler, neben dem kommerziellen Erfolg wurde er dafür auch mit dem renommierten Pulitzerpreis geehrt, den er später dann noch zweimal als Dramatiker für Theaterstücke erhielt. Thema dieses Romans ist die uralte Menschheitsfrage nach dem Sinn des Lebens, anders ausgedrückt die vorgelagerte Frage, ob unser Leben vom Zufall oder von göttlicher Fügung bestimmt ist, und damit natürlich auch die Grundfrage nach einem Beweis für die Existenz Gottes.
«Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Menschen hinunter in den Abgrund» lautet der erste Satz. Wilder bezieht sich in seinem Roman auf eine tatsächlich von Inkas aus dem Material des Urwalds gebaute Hängebrücke über den Río Apurímac. Bruder Juniper, ein Franziskaner, wurde zufällig Augenzeuge des Unglücks. «Warum geschah das just diesen Fünfen?» fragte er sich. «Es schien Bruder Juniper hohe Zeit zu sein, dass die Theologie ihren Platz unter den exakten Wissenschaften einnähme, und er hatte seit langem beschlossen, ihr den zu verschaffen». Der Mönch sah in dem Unglück eine Chance dafür, wenn sich nämlich zeigen würde, «dass jedes der geendeten Leben ein abgeschlossenes Ganzes gewesen war», diese Fügung mithin ihren Grund hatte und kein Zufall war, q.e.d. - wie es in den exakten Wissenschaften heißt. Die akribischen Recherchen Junipers über die Lebensgeschichte der fünf Opfer füllten schließlich ein dickes Buch, welches dann plötzlich für ketzerisch erklärt wurde. «Es wurde samt seinem Verfasser dazu verurteilt, auf dem großen Platze verbrannt zu werden».
In diesem Handlungsrahmen erzählt Wilder von der schreibwütigen Marquesa de Montemayor und deren liebloser Tochter, von Pepita, der als Waise im Kloster aufgezogenen Gesellschafterin der Marquesa, von Esteban, der durch den frühen Tod des Zwillingsbruders aus der Bahn geworfen wurde, und schließlich von Onkel Pio, einem liebenswerten Bonvivant, «Kammerzofe» der Perichole, einer gefeierten Schauspielerin, deren illegitimer Sohn Jaime den Vizekönig zum Vater hat. Alle diese Figuren, ergänzt um eine aufopfernde Äbtissin, einen wackeren Kapitän, den genussüchtigen Erzbischof und andere mehr, werden liebevoll und sehr treffend geschildert, sie erscheinen dem Leser geradezu plastisch vor Augen. Diese großartige Beschreibungskunst Wilders erhält noch eine willkommene Steigerung durch seinen stets präsenten, man könnte fast sagen schwarzen Humor, seine köstliche Ironie jedenfalls allem Menschlichen gegenüber, an subtilen englischen Humor erinnernd. Die Fäden seiner kapitelweise erzählten Handlung laufen immer deutlicher zusammen, fein strukturierte Bezüge zwischen den Protagonisten werden erkennbar, und am Ende betreten die tragischen Fünf, die Marquesa mit Pepita, Esteban und Onkel Pio mit Jaime, die verhängnisvolle Brücke.
Thornton Wilder beschreibt das Geschehen und dessen metaphysische Hintergründe in einer mitreißenden Sprache, kurz und bündig in wunderbar treffenden Formulierungen ohne jeden Schnörkel, sehr angenehm zu lesen also. Was er zu sagen hat ist ebenso lebensklug wie empathisch, man solle als Leser, um aus dem Roman zu zitieren, sich nicht «just das entgehen» lassen, «was der eigentliche Sinn von Literatur ist: die Notation des Herzens». Das tragische Ereignis selbst, muss hier noch angemerkt werden, ist nicht in Vergessenheit geraten, es lebt in einem peruanischen Sprichwort weiter. «Vielleicht sehe ich dich Dienstag», sagt man dort zum Beispiel, «wenn die Brücke nicht reißt».
5* erstklassig - Bories vom Berg - 6. August 2014
© Copyright 2014
|