Lesegewohnheiten
Das tintenkleksende Säkulum
Als Leseratten wenn nicht gar als Literatur-Junkies, zu denen ich
alle unerschrockenen Leute rechne, die doch tatsächlich meinen
Gedankengängen bis zu dieser Stelle gefolgt sind, als süchtige Leser
also sollten wir nicht glauben, unser gemeinsames Steckenpferd wäre
etwas Besonderes. Rüdiger Safranski hat in seiner großartigen
Schiller-Biografie einen Blick zurück geworfen auf das 18.
Jahrhundert, welches er als das tintenklecksende Säkulum bezeichnet,
in dem die Vielleserei fast epidemisch
war. «Was im Lesenden vorgeht, lässt sich schwer kontrollieren»
schreibt er. «Da gibt es Erregungen, Phantasien im Verborgenen. Das
lesende Frauenzimmer auf dem Sofa, Romane verschlingend,
überantwortet es sich nicht verhüllten Exzessen? Und die lesenden
Gymnasiasten, nehmen sie jetzt nicht teil an Abenteuern, von denen
ihre Erziehungsberechtigten sich nichts träumen lassen»? Lesen war
in jener Zeit ja ein Privileg der gebildeten Bevölkerung, selbst am
Ende des Jahrhunderts konnte man nur etwa fünfundzwanzig Prozent des
Volkes zu den potentiellen Buchlesern rechnen, das Bürgertum
zumeist, für das schließlich auch der bezeichnende Name
Bildungsbürgertum geprägt wurde. Im letzten Jahrzehnt dieses für die
Literatur so wichtigen achtzehnten Jahrhunderts erscheinen 2.500
Romantitel auf dem Markt, genau so viele wie insgesamt in den
neunzig Jahren zuvor. Es ging rasant voran.
Mit dem wachsenden
Angebot vollzieht sich auch ein entsprechender Wandel der
Lesegewohnheiten, man liest nicht mehr ein Buch mit Bedacht und
immer wieder, den «Faust» zum Beispiel, sondern möglichst viele Bücher
nur einmal, man verschlingt sie regelrecht. In der heimischen Stube
damals war man ja noch nicht abgelenkt von Musikberieselung, Film,
Fernsehen, Computer und Internet, die dem Buch seine Rolle bei der
Freizeitgestaltung heutzutage streitig machen, es oft komplett
ersetzt haben. Schon Ende des 18. Jahrhunderts konnte kaum mehr
einer alles gelesen haben, und heute ist es vollends unmöglich
geworden, wir müssen selektieren, uns auf das Wichtige und für uns
ganz persönlich Richtige konzentrieren.
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