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Bibliothek ungelesener Bücher
Meine Randnotiz vom 25. Oktober 2020 wurde jüngst durch einem interessanten Artikel in der Süddeutschen Zeitung kompetent ergänzt. Unter der Überschrift ‹Mutmaßungen über Musil› war dort am 14. Januar ein Interview mit dem Wiener Künstler Julius Deutschbauer zu lesen, der seit 1997 Menschen über die nie gelesenen Bücher in ihrem Buchbestand befragt. Nach den Gesprächen kauft der ‹Beichtvater des schlechten Lesergewissens›, wie er sich selbst bezeichnet, den Leuten diese Bücher dann sogar ab. Er reiht sie in seine inzwischen auf 800 Bände angewachsene Sammlung ein, die er ‹Bibliothek ungelesener Bücher› nennt, an wechselnden Orten ausstellt und für literarische Veranstaltungen nutzt. Die Idee dazu sei ihm gekommen, weil abseits literarischer Kanon-Listen auch Prominente immer wieder nur nach ihrer gerade aktuellen Lektüre befragt würden, nicht nach dem, was sie nie gelesen haben.
Unwillkürlich erinnert mich diese etwas spleenig wirkende künstlerische Aktivität an den amüsanten französischen Spielfilm ‹Der geheime Roman des Monsieur Pick›, der auf dem gleichnamigen Roman von David Foenkinos basiert. Dort nämlich spielt die ‹Bibliothek der abgelehnten Manuskripte› die Schlüsselrolle in einer Komödie um einen arroganten französischen Literatur-Kritiker. In der literarischen Kette vom Autor zum Leser teilen somit die am Anfang stehenden, abgelehnten Manuskripte das Schicksal der ungelesenen Bücher ganz am Ende der Kette, Ignoranz auf beiden Seiten also! Und da von spleenig die Rede war, Witzbolde haben, wohl vom Film oder Roman angeregt, in London ein solches Museum dann tatsächlich auch gegründet. Wohltuender schwarzer Humor, very british!
Aber zurück zum Interview: Der in der Artikelüberschrift der SZ genannte Robert Musil belegt mit «Der Mann ohne Eigenschaften» Platz eins mit 22 Nennungen in der Rangfolge nicht gelesener Bücher. Es folgt mit 20 «Ulysses», die Bibel mit 19, «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» mit 16, dann auf Platz fünf mit jeweils 10 Nennungen Marx und Hitler. Mit je 6 Nennungen folgen gemeinsam auf Platz sechs «Der Zauberberg», «Don Quixote», «Krieg und Frieden» und «Zettels Traum». Letzterer war für Ankäufe dann aber doch schlichtweg zu teuer, ein Sonderfall quasi. Betrachtet man lediglich die genannten ‹literarischen› Bücher, so gehören sie zwar sämtlich zum Kanon, sind aber vom Umfang, bei einigen wohl zusätzlich von Stil und Inhalt her, für viele eine deutlich zu schwere Kost. Näheres kann man im Internet auf der Seite des Wiener Künstlers nachlesen.
Die stolzen Besitzer haben diese Bücher aber unverdrossen in ihrem Bücherschrank stehen, irgendwann, da sind sie zuversichtlich, «lese ich das dann doch mal». Dabei bleibt es meistens! Aber für die eigene Belesenheit, so hat Heinz Schlaffer tröstend geschrieben, sei auch unvollständiges Lesen ein Gewinn, und ein wenig herumgeblättert haben schließlich ja alle schon mal in ihren ungelesenen Büchern. Fühlt sich da jemand angesprochen?
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