DIE GERMANISTIN
Wenn ein Roman den Titel «Die Germanistin» trägt, lockt das sicherlich so manchen literarisch Wissbegierigen als Leser an, gerade auch weil man die in Jamaika gebürtige Autorin gar nicht kennt, bei mir war es jedenfalls so. Man wird außerdem vom Klappentext in der Vermutung bestätigt, dass Literatur eine gewichtige Rolle spielt in einem Debütroman, den immerhin eine Literatur-Wissenschaftlerin geschrieben hat, die heute an der Universität von Manchester lehrt. Bei diesen Zutaten darf man neugierig sein!
Ich-Erzähler der Geschichte ist ein namenlos bleibender, äußerst farblos wirkender Student, der eine Doktorarbeit über den charismatischen französischen Schriftsteller und Philosophen Paul Michel schreiben will. Seine ebenfalls an einer Promotion über Friedrich Schiller arbeitende, knabenhaft aussehende und merkwürdig spröde und launisch wirkende Freundin animiert ihn, den schon jahrelang in der Psychiatrie weggeschlossenen Schriftsteller zu suchen, sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen, nicht nur dessen Werke allein als Studienobjekt heranzuziehen. Diese Werke hat Patricia Duncker im Anhang des Buches listig als Curriculum Vitae in Kurzform den Lebens- und Werkdaten des Philosophen Michel Foucault gegenübergestellt. Damit hat sie offenbar viele Leser in die Irre geführt, wie man verschiedenen Rezensionen entnehmen kann, denn Paul Michel ist, im Gegensatz zu Foucault, eine fiktive Figur der Autorin. Einer seiner Romane, «La Maison d’Eté», soll 1976 sogar den Prix Goncourt erhalten haben, behauptet sie verschmitzt.
In vier nach den Handlungsorten «Cambridge», «Paris», «Clermont» und «Der Midi» betitelten Abschnitten wird in dem rasant geschriebenen, nie langweiligen Roman eine raffiniert konstruierte, abenteuerliche Geschichte erzählt, die immer wieder überraschende Wendungen nimmt und furios endet. Dieser Plot ist durchaus gewitzt erdacht und sprachlich gekonnt umgesetzt obendrein, auch die Protagonisten sind allesamt stimmig und liebevoll beschrieben. Der schwule Vater der Titel gebenden «Germanistin» zum Beispiel arbeitet bei der englischen Nationalbank und wird im Roman kurzerhand nur «Die Bank von England» genannt, was zu recht skurrilen Sätzen führt, «very british» eben. Seltsam, dass fast alle wichtigen männlichen Figuren des Romans homosexuell sind oder es zumindest zeitweise werden wie der namenlose Ich-Erzähler, den die französische Hauptfigur Paul Michel nur mit «petit» anredet. Diese einseitige sexuelle Färbung des Plots und das Generalthema Psychiatrie sind nicht gerade alltäglich in Romanen, sie sind auch nicht jedermanns Sache, aber ganz offensichtlich wollte die Autorin keine brave, konventionelle Belletristik abliefern mit ihrem Erstling. Der im Übrigen angereichert ist mit diversen philosophischen und literarischen Themen, die in Dialog- oder Briefform eingebaut dem Buch einen gewissen intellektuellen Anspruch verleihen sollen. Ob das tatsächlich gelungen ist, hängt allein vom individuellen Maßstab des verehrten Lesers ab.
Wenn sich am Ende der Geschichte in einer Rückblende der psychotische Protagonist am Strand mit einem kleinen Jungen anfreundet, dessen Vater niemand anderes ist als «Die Bank von England», und der sich also in Wahrheit nun als ein Mädchen entpuppt, als unsere knabenhafte «Germanistin» nämlich, dann schließt sich der Kreis der Erzählung, - der tödlich verunglückte Romanheld kann beerdigt werden. Ich möchte diesem kurzen Roman attestieren, dass er recht niveauvoll unterhält, ich habe ihn als spannendes Buch in einem Rutsch gelesen.
3* lesenwert - Bories vom Berg - 8. Mai 2013
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