EINE SEHR KLEINE FRAU
Mit dem Roman «Eine sehr kleine Frau» hat der österreichische Schriftsteller Peter Henisch mehr als dreißig Jahre nach seinem großen Erfolg mit «Die kleine Figur meines Vaters» eine Ahnengeschichte dazu nachgeliefert. In einem raffiniert angelegten Plot erzählt er autofiktional von der Großmutter Martha, die auf ganz besondere Weise die Kindheit seines Protagonisten geprägt hat. Dabei entsteht nicht nur das berührende Bild einer schon fast symbiotischen Verbundenheit mit dem Enkel, sondern auch das von zwei Weltkriegen überschattete, historische Panorama Österreichs.
Der einst als Schriftsteller erfolglos gebliebene Paul Spielmann hat nach zwei Jahrzehnten als Professor für kreatives Schreiben seine Zelte in den USA abgebrochen und ist in seine Heimatstadt Wien zurückgekehrt. Auslöser war eine medizinische Diagnose, die es ihm angeraten erscheinen ließ, sich zur weiteren Behandlung in die Hände einer weltweit führenden Spezialklinik in Wien zu begeben. Ein zweiter, aber nicht weniger bestimmender Grund war Heimito von Doderer. Als er nämlich versuchte, seinen Studenten diesen großen österreichischen Schriftsteller nahezubringen, ist er grandios gescheitert, er stieß auf völliges Unverständnis, auch bei seiner amerikanischen Freundin übrigens. Dieser Flop hatte zudem das Heimweh bei ihm angefacht. In den zwei Wochen vor seinem ersten Untersuchungs-Termin begibt er sich nun auf Spurensuche, wobei er gleich als erstes in einem Schaufenster einen Bösendorfer Stutzflügel entdeckt, der dem seiner Großmutter verblüffend ähnelt. Er sucht die Stätten seiner Kindheit auf und geht zu den verschiedenen Häusern, in denen die Familie und seine Oma einst gewohnt haben. Damit folgt er immer auch den Wegen, auf denen er mit der Großmutter so oft spazieren gegangen ist, und besucht sogar die Zielorte ihrer vielen gemeinsamen Wanderungen.
Neben dieser heutigen Erzählebene als äußerem Rahmen wird in berührenden Bildern die behütete Jugend von Paul geschildert, in der die «sehr kleine Frau» ihm unendlich viele Geschichten erzählt, ihn an die Literatur heranführt und in ihm auch die Liebe zur Musik weckt. Als kleines Kind saß er oft stundenlang unter dem Flügel, wenn die Oma darauf gespielt hat, - rein zum Spaß nur, als Altershobby, ohne irgendwelche Ambitionen. Die Lust am Erzählen artikuliert sich im Roman besonders an den immer wieder eingeflochtenen Märchen, Sagen oder Romangeschichten, von denen die Oma unermüdlich spricht, und er ist stets begierig darauf, ihr zuhören zu können. Besonders «Vom Winde verweht» von Margaret Mitchel hat es ihr angetan, und es wird offensichtlich, dass die Oma sich auf besondere Weise mit der Romanheldin Scarlett O’Hara identifiziert, die wie sie trotz ihrer kämpferischen Willensstärke schicksalhaft ein unerfülltes Leben führen musste. Die oft komischen Nacherzählungen dieser Lektüre-Erlebnisse verleihen dem Roman einen sehr spezifischen Zauber, der durch das Klavier als Leitmotiv stimmig ergänzt wird. Die politischen Hintergründe werden jeweils mit feiner Ironie angedeutet, denn Martha hat teilweise «mosaische» Wurzeln. Ihr zweiter Mann, ein Postbeamter, entwickelt sich unaufhaltsam zum glühenden Nazi, stirbt aber wenige Tage vor dem ‹Anschluss› Österreichs. Als die völlig unpolitische Martha dann die ‹Rede des Führers› im Radio hört, wundert sie sich sehr, warum der Mann dermaßen brüllt. Später aber stellt sie dann erstaunt fest, dass genau dieses Geschrei inzwischen zum normalen Umgangston der Amtsträger geworden ist.
Peter Henisch erzählt seinen klug konstruierten Plot in einfachen Sätzen, frei von Sentimentalitäten, als Geschichte einer körperlich kleinen, emphatisch jedoch großen Frau aus einfachen Verhältnissen, die Romane, Filme, das Klavier und ihren Enkel liebt. Symbolisch aufgeladen erzeugt er damit einen zuweilen ans Triviale grenzenden, nostalgischen Erzählzauber, von dem man sich aber gerne einfangen lässt als Leser, auch weil hier so viel von Literatur die Rede ist.
4* erfreulich - Bories vom Berg - 6. Februar 2022
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