ZU VIEL GLÜCK
Vielen Romanlesern dürfte es genau so gegangen sein wie mir, Alice Munro kam auf meiner Leseliste bisher nicht vor, Kurzepik als literarische Appetithäppchen ersetzen mir nicht die gedankliche Weite und thematische Vielfalt eines klassischen Romans. Aber wenn eine Autorin mit dem Nobelpreis geehrt wird wie Alice Munro in diesem Jahr, sollte man ruhig mal eine Ausnahme machen von der Leseroutine. Man muss denn auch mindestens zwanzig Jahre zurück gehen zu Toni Morrison (1993), um preisgekrönte Schriftsteller US-amerikanischer Herkunft zu finden. Kanada, immerhin nordamerikanisch, hatte bisher noch keinen Nobelpreisträger gestellt. Nach seinem Stifter soll den mit fast einer Million Euro dotierten Literaturpreis derjenige Autor erhalten, der «das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat», und für 2013 ehrte die Jury nun also eine «Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte». So betrachtet, das sei vorwegschickt, geht der Preis auch völlig in Ordnung.
Zehn recht unterschiedliche Erzählungen sind in dem Band «Zu viel Glück» enthalten, dessen Titel schon darauf hindeutet, dass jedem Übermaß potenziell Leid, Unglück, Enttäuschung, Scheitern gegenübersteht, das Glück auf ein bescheideneres Maß zurückstutzend. Als Protagonisten begegnet man fast ausnahmslos Frauen in mittelständisch geprägten, meist ländlichen Milieus Kanadas. Alle sind in wenigen Worten sehr treffend geschilderte Charaktere, die oft in prekären Verhältnissen leben und Konflikten vielfältigster Art ausgesetzt sind. Wen wundert’s, dass meistens Männer den Gegenpol bilden, Ursache der Probleme sind oder gar Katastrophen auslösen wie in der ersten, sehr beklemmenden Geschichte. Munro schreibt jedenfalls aus weiblicher Sicht, ohne dass man ihr Feminismus vorwerfen könnte, sie liefert lediglich ihren Beitrag zu der These «Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen». Als Konfliktpotential zieht die Autorin neben dem ziemlich dominant im Vordergrund stehenden Geschlechterkampf auch das Miteinander der verschiedenen Generationen heran sowie gesellschaftliche Umbrüche. Es gibt bei ihr innere Spannungen und menschliche Konflikte zuhauf, sie beschreibt unsentimental und mit viel Hintersinn gekonnt die vielfältigen seelischen Probleme des Menschen.
Wie ein Schlag ins Gesicht beginnt es gleich in der ersten Geschichte einer Frau, deren Mann ihre drei Kinder umgebracht hat, die sich aber trotzdem an ihn gebunden fühlt. Eine Musikschülerin geht ihre eigenen Wege und taucht plötzlich als Autorin wieder auf, eine Philosophie-Studentin liest einem reichen Lustgreis nackt Gedichte vor, eine Mutter steht ratlos ihrem völlig aus der Bahn geworfenen Sohn gegenüber, eine Frau verblüfft den in ihr Haus eingedrungenen Mörder mit einer Giftmord-Geschichte. Die tragische Liebe einer jungen Frau zu einem durch ein Muttermal abstoßend verunstalteten Mann wird ebenso knapp und pointiert erzählt wie die Zuneigung einer lebenslustigen Masseurin zu ihrem sterbenskranken Leukämie-Patienten, die kaltblütige Ermordung eines geistig zurückgebliebenen Mädchens durch zwei Schülerinnen oder ein Unfall im Wald, der ein Paar wieder näher zusammenbringt. Zuletzt folgt eine Geschichte aus dem Europa des 18. Jahrhunderts, in der eine Frau als erste eine Professur für Mathematik erhält, die längste und sicherlich auch schwächste Erzählung dieses Bandes.
Munro vermag Empathie zu wecken, sie erzählt in einfachen Worten, unaufgeregt, fast lakonisch Dramen ohne Katharsis, vor allem aber ohne Happy End, was ja nicht ganz selbstverständlich ist für die Kontinenthälfte, auf der sie lebt. Dabei bewegt sie sich immer haarscharf an der Grenze zur Trivialliteratur, hat aber mit ihrem inzwischen abgeschlossenen Lebenswerk, ihr erklärtermaßen letztes Buch erschien ja vor wenigen Tagen, ihre epischen Form zur Vollendung gebracht. Wer Munros komprimierte, humorlose Erzählweise mag, kommt jedenfalls voll auf seine Kosten.
2* mäßig - Bories vom Berg - 13. Dezember 2013
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