MICHAIL OSSORGIN
EINE STRASSE IN MOSKAU
Fernab literarischer Niederungen
Mit seinem Debütroman «Eine Straße in Moskau» gehört der
russische Schriftsteller Michail Ossorgin zu den aufregendsten literarischen
Wiederentdeckungen des vergangenen Jahres. Der Originaltitel «Siwzew Wrashek»
des 1928 im Pariser Exil erschienenen Romans bezeichnet eine kleine, bei der
Moskauer Intelligenzija als Wohnsitz beliebte Straße in der Hauptstadt des
Zarenreichs. Die vorliegende, sprachlich überzeugende Neuübersetzung entwickelt
gleich von der ersten Seite an einen erzählerischen Sog, dem man sich kaum
entziehen kann.
Zeitlich zwischen dem Frühjahr 1914, kurz vor dem Ersten
Weltkrieg, und dem nahenden Frühling 1920 angesiedelt, handelt dieser Roman von
den Umbrüchen im Russland jener Jahre. Ossorgin spiegelt Weltkrieg,
kommunistische Revolution und den Bürgerkrieg «Weiß gegen Rot» an den
Geschehnissen seines Mikrokosmos in der Siwzew Wrashek, dessen Mittelpunkt der
betagte Ornithologe Iwan Alexandrowitsch und dessen verwaiste Enkelin Tanjuscha
sind. Wir erleben als Leser die Auswirkungen der politischen Umbrüche, die
unsäglichen Schrecken des Krieges, die bittere Notlage der Bevölkerung und das
mit der Machtübernahme durch die Bolschewisten einhergehende, totale Chaos,
illustriert an den Schicksalen der Protagonisten, wobei die defekte Kuckucksuhr
des Professors zu Beginn der Geschichte den völligen gesellschaftlichen
Zusammenbruch sehr wirkungsvoll symbolisiert. Überhaupt findet der Autor immer
wieder wunderbar stimmige Bilder, die das Geschehen poetisch umschreiben, wofür
die Schwalbe beispielhaft ist, die zu Beginn der Geschichte gerade angekommen
ist und ihr altes Nest bezieht am Haus des Ornithologen, als Frühlingsbote
freudig begrüßt von Tanjuscha. Und die Schwalben sind es dann auch, deren
ersehnte Wiederkehr sechs Jahre später, am Ende des Romans, die Zuversicht auf
bessere Zeiten versinnbildlichen.
Der Autor zeichnet seine Figuren liebevoll, den Komponisten
Lwowitsch zu Beispiel, der abends im Salon des Professors Klavier zu spielen
pflegt, oder die beiden jungen Männer, die Tanjuscha umwerben und deren
Schicksal nicht unterschiedlicher sein könnte. Patriotischer Soldat der Eine,
dem eine deutsche Granate alle Gliedmaße abreißt, was er, nur noch Torso nun,
als medizinisches Wunder überlebt, vom Autor im weiteren lapidar als «Der
Stumpf» bezeichnet. Der sich nun mit einem im Krieg erblindeten Soldaten einen
makabren Streit darüber liefert, wem es schlechter gehe. Trotz aller Schrecken
erzählt Ossorgin seine Geschichte mit ironischem Unterton, der ins Urkomische
umschlägt, wenn er zum Beispiel den kometenhaften Aufstieg eines Deserteurs bei
den Bolschewiki schildert, dem Zufall und Kaltschnäuzigkeit im Wirrwarr der
kommunistischen Machtergreifung unerwartet einen Posten beschert. Ein anderer
findet sein Auskommen als Henker, der, quasi im Akkord bezahlt, ungerührt sein
grausiges Handwerk betreibt, beim Schlachten des von seiner Frau gemästeten
Schweins hingegen kläglich scheitert.
Der in 86 kurze Kapitel gegliederte zweiteilige Roman ist
schlaglichtartig auf das Private fokussiert, er zeigt den unfassbaren Fatalismus
seiner Figuren auf, die sich in all dem gesellschaftlichen Horror eine Nische
der Menschlichkeit offenhalten. Es wird chronologisch erzählt in überwiegend
realistischen Einzelszenen, wobei die Mäuse und Ratten im alten Haus des
Professors ebenso einbezogen sind wie der Kuckuck, dessen Rufe dem Ornithologen
die ihm verbleibenden Jahre verkündet. Feinsinn und brutalster Horror stehen
sich diametral gegenüber in diesem grandiosen Panorama eines tiefgreifenden
gesellschaftlichen Umbruchs, der den Autor selbst ins Exil getrieben hatte,
zusammen mit 600.000 russischen Flüchtlingen übrigens, die damals binnen eines
Jahres ins Deutsche Reich gekommen sind, wie uns das informative Nachwort wissen
lässt. Den Leser erwartet eine äußerst gekonnt erzählte, bereichernde Lektüre,
die ihresgleichen nicht hat in den Niederungen der Gegenwartsliteratur.
5*
erstklassig - Bories vom Berg - 19. Januar 2016
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