ANTICHRISTIE
Der zweite Roman «Antichristie» von Mithu Sanyal ist für den Deutsche Buchpreis 2024 nominiert worden, hat es also wie ihr Debüt «Identitti» ebenfalls auf die Longlist geschafft. Dabei ist es aber, wie auch schon 2021, dann geblieben. Thema des neuen Romans dieser Autorin mit indischen Wurzeln ist der britische Kolonialismus und die Gewalt, die er hervorgerufen hat. Die der Autorin in manchem ähnelnde Protagonistin ist im Jahre 2022 in London als Drehbuchschreiberin an den Arbeiten zu einer antirassistischen Agatha-Christie-Verfilmung beteiligt. Gerade erst ist die den Umschlag zierende, britische Königin gestorben, und der dort ebenfalls abgebildete Tiger deutet auf den Namen der Protagonistin hin. Sie trägt den Namen der auf dem Tiger reitenden, hinduistischen Göttin Durga, was im Sanskrit «Die Schwer zu Begreifende» bedeutet. Wie treffend genau dieser Name gewählt ist, erschließt sich dem Leser schon nach wenigen Romanseiten!
Die Ich-Erzählerin Durga ist als Drehbuchschreiberin zu einem zehntägigen «Writers’ Room» der Firma Florin Court Films in London eingeladen, weil sie eine Doppelfolge von «Doctor WHO» geschrieben hat. Bei einer traumatischen Flucht landet sie in dem Garten einer Gärtnerin, wie sie wegen der dort aufgehängten Wäsche vermutet, sie steht jedoch plötzlich einem Mann gegenüber. Und sie stellt fest, dass sie einen Penis hat, der erigiert ist. Aus Durga ist Sanjeev geworden, ein neuer, zweiter Ich-Erzähler, der parallel das weibliche Bewusstsein von Durga beibehält. Er findet sich im Jahre 1906 im Londoner «India House» als Zaungast einer gerade entstehenden indischen Freiheitsbewegung wieder. Und er erinnert sich dort sogar an etwas, das Durga mal gegoogelt hat! Chronologische Kontinuität wird in diesem Roman also ganz unbeirrt ad absurdum geführt, Zeit und Geschlecht problemlos gewechselt wie das Hemd. In den Personen um sich herum erkennt Sanjeev Helden des Freiheitskampfes, von denen Durgas Eltern ihr oft erzählt haben, ihr bengalischer Vater und Lila, ihre Mutter, eine Duisburgerin, die sich dem kolonialen Freiheitskampf Indiens stark verbunden gefühlt hat. Der Tod der Monarchin ruft antirassistische Demonstrationen hervor, auch vor dem Büro der Filmfirma. So dass mit der Königin in deren Motto, «Keep calm and hands off our Queen», auch Agatha Christie gemeint sein könnte, deren Krimis im antirassistischen Überschwang mit einem farbigen Hercule Poirot motivisch geradezu entstellt werden sollen.
Der/die Protagonist/in ist in diesem Roman voller Paratext, Verweisen, Symbolen, Phantasien und Träumen die alleinige Erzähl-Instanz, an die all diese verschiedenartigen Elemente mangels erkennbaren Plots gewissermaßen ‹andocken›, um eine narrative Struktur zu bilden. Eine eigensinnig gewählte Erzählhaltung der Postmoderne, die zu bezwecken scheint, dem erwartungsvollen Lesepublikum literarisch etwas sensationell Neues, total Unkonventionelles anzubieten. Folglich werden in dem «Abspann» genannten, üppigen Nachwort nicht nur die Intentionen der Autorin sehr ausführlich dargelegt, sondern auch die im Textwirrwarr kaum erkennbare Handlung erläutert Und das wird ergänzt um ein mit «Cast & Crew» betiteltes, ebenso üppiges Personenregister, ohne das man hoffnungslos verloren wäre.
Wie notwendig all das ist, beweisen die durchweg zweifelnden Stimmen aus den Feuilletons ebenso wie die aus den Leser-Kommentaren. Hauptkritikpunkt an diesem Roman ist die spannungslose, kaum nachvollziehbare Handlung, die zum Verständnis auch deutlich zu viel historisches Spezialwissen voraussetzt. «Antichristie» ist zudem hoffnungslos überfrachtet und wird durch die abrupten Zeitsprünge zunehmend nervig, man ärgert sich aber auch über die dozierende Erzählweise. Ein wirres Roman-Konstrukt also, dem zu folgen kaum möglich ist. Es ist der scheinbar zwanghafte literarische Versuch, unbedingt unkonventionell zu schreiben, um dann im Ergebnis genau daran grandios zu scheitern!
1* miserabel - Bories vom Berg - 16. Oktober 2024
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