AUS DEM LEBEN EINES FAUNS
Schon der Titel des Kurzromans «Aus dem Leben eines Fauns» von 1953 weist deutlich auf das Wesen seines Protagonisten hin. Der dem Autor Arno Schmidt in vielem ähnelnde Ich-Erzähler flüchtet aus der Öde seines langweiligen Beamtenalltags, der Trostlosigkeit seiner familiären Situation und den zutiefst verachteten politischen Verhältnissen in eine entlegene Einsamkeit, wo er faunisch, als lüsterner Waldgeist, ein von allen Zwängen befreites Doppelleben genießt. Der dreiteilig aufgebaute Roman, in der NS-Zeit angesiedelt, beleuchtet das Bürgertum in typischen Phasen dieser verhängnisvollen geschichtlichen Epoche aus einem ganz speziellen Blickwinkel. Dem des kritischen, aber nicht rebellierenden Intellektuellen nämlich, der sein Refugium in der inneren Emigration findet.
Im mit «Februar 1939» überschriebenen ersten Teil wird Heinrich Düring als gebildeter Beamter geschildert, der im Landratsamt von Fallingbostel einer ihn deutlich unterfordernden Beschäftigung nachgeht. Im Privaten findet er keinen Ausgleich, seine Frau weist ihn sexuell ab, der Sohn schließt sich, provokativ ihm gegenüber, der Hitlerjugend an, die pubertierende Tochter bleibt ihm fremd. Er findet seinen Ausgleich in der Natur, unermüdlich die geliebte Heidelandschaft durchstreifend, außerdem in der Beschäftigung mit alter Literatur, die ihm als geistige Fluchtburg aus der realen Welt dient. Dabei erweist er sich als glühender Verehrer Wielands, hebt aber auch Ludwig Tiecks Prosa heraus: «Und wie steifbeinig-altklug dagegen Goethes ‚anständige’ Geheimratsprosa: der hat nie eine Ahnung davon gehabt, dass Prosa eine Kunstform sein könnte». Als ihn der Landrat mit der Errichtung eines Kreisarchivs betraut, kann er der Ödnis seines Berufslebens nun wenigstens zeitweise entfliehen.
Im zweiten Teil «Mai/August 1939» stürzt er sich begeistert in die Arbeit, lebt regelrecht auf dabei. Besonders fasziniert ihn die Geschichte eines Deserteurs aus dem Deutsch-Französischen Krieg, der jahrelang versteckt im Moor gelebt haben muss, ohne dass man ihn ergreifen konnte. Zufällig entdeckt er dessen Hütte und errichtet dort sein Refugium, das zum Liebesnest wird, als die Nachbarstochter sein Liebchen wird. Den nahen Krieg richtig einschätzend hebt er schließlich all sein Geld vom Konto ab und deckt sich mit Dingen ein, von denen er aus dem Ersten Weltkrieg weiß, dass sie schon bald kaum noch zu haben sein werden. Nach dem Zeitsprung zum dritten Teil «August/September 1944» werden seine Vermutungen bestätigt, man lebt in bitterer Not, wobei schließlich die hartnäckig verkündeten Endsieg-Phrasen in einer Art Autodafé widerlegt werden, bei dem die benachbarte Munitionsfabrik im Bombenhagel zerstört wird. Die mich unwillkürlich an Picassos berühmtes Guernika-Gemälde erinnernde Schilderung des Infernos aus Bomben und explodierender Fabrik ist in seiner drastischen Ausformung kaum zu überbieten, der zweifellos stärkste, aber natürlich auch am meisten schockierende Teil dieses Romans.
Schmidt hat von Pointillier-Technik gesprochen bei seiner expressionistischen Erzählweise, die aus aneinander gereihten, im Layout deutlich erkennbaren kurzen Textschnipseln bestehend den Leser ständig zum ergänzenden Mitdenken zwingt. Über weite Teile als innerer Monolog angelegt, spiegeln die Textfragmente die menschliche Denkweise wider; sein Leben sei «kein Kontinuum», lässt Düring den Leser gleich auf der ersten Seite wissen. In seinen Reflexionen formuliert er vehement, oft auch polemisch, seine Antipathien gegen Religion, NS-Regime, Übervölkerung, vermeintlich schlechte Literatur; aber auch gegen bergige Landschaften, die seinem Flachland-Ideal widersprechen. Der überbordende Wortwitz von Arno Schmidt wird von unzähligen kreativen Neubildungen jenseits aller Dudenregeln noch übertroffen, oft auch verballhornt im Argot des Alltags, «Heilitler» heißt die Grußformel dann. Eine ungemein bereichernde Lektüre mithin, für denkfreudige Leser geradezu ein Muss!
5* erstklassig - Bories vom Berg - 22. Juni 2016
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