

ARNO SCHMIDT
DAS STEINERNE HERZ
Manifeste Leseerwartungen hintanstellen
Seiner Fouqué-Studien wegen war Arno Schmidt 1954 über den
niedersächsischen Flecken Ahlden nach Berlin gereist, einige Eindrücke dieser
Reise verarbeitete er anschließend in seinem Roman mit dem von E.T.A. Hoffmann
inspirierten Titel «Das steinerne Herz», der den süffisanten Untertitel
«Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi» trägt. Wie kein Anderer hat
Arno Schmidt die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der deutschsprachigen
Literatur geprägt, in seiner Dominanz derjenigen von Thomas Mann in der ersten
Hälfte vergleichbar. Aus seiner frühen Schaffensperiode ist der vorliegende
Roman das bedeutendste Werk, es finden sich darin alle typischen Merkmale seiner
Prosa: Sein ätzender Kulturpessimismus, sein «militanter» Atheismus, wie er es
selbst einmal in einer Bewerbung (als Küster auch noch - sic!) formuliert hat,
und nicht zuletzt der höchst eigenwillige, expressionistische Schreibstil, der
schon manchen Leser zur Verzweiflung gebracht hat, den andere jedoch geradezu
hymnisch bejubeln, - zu Recht, wie ich meine.
Walter Eggers heißt sein Ich-Erzähler - und in Teilen
natürlich Alter Ego - in diesem Roman, und auch hier ist der Protagonist ein
äußerst selbstbewusster Mann mit eigenwilligen Marotten, zu denen bei Arno
Schmidt ja immer eine ins Extreme gesteigerte Bibliophilie mit verstiegener,
abseitiger Thematik gehört. Auf der Suche nach dem Nachlass des 1861
verstorbenen hannoverschen Statistikers Jansen nämlich mietet Walter sich in
Ahlden bei dessen Enkelin Frieda ein. Er macht sie zu seiner Geliebten und
findet tatsächlich auf dem Dachboden ihres Hauses eine Kiste des Großvaters mit
den erhofften statistischen Jahrbüchern. Als er sich mit seiner Beute aus dem
Staube machen will, entdeckt er zufällig am letzten Abend vor seiner Flucht
einen versteckten Münzschatz. Die seltenen Stücke werden von Walter trickreich
an einen reichen Sammler verkauft. Der Erlös ist ein kleines Vermögen, und in
Anbetracht dieses unverhofften Geldsegens bleibt er jetzt doch bei Frieda, er
kann nun ohne finanzielle Sorgen seine eigenwilligen Studien betreiben. Damit
ist er ähnlich an diesen Ort gefesselt wie einst die tragische Prinzessin Sophie
Dorothea von Ahlden, auf die im Roman zuweilen Bezug genommen wird.
Die dreiteilige Geschichte spielt im Mittelteil in der
Ostzone, wie die DDR als deutscher Teilstaat damals abwertend genannt wurde, die
beißenden Kritik des Autors an allem Politischen aber gilt beiden Systemen
gleichermaßen, dem militanten Adenauerstaat wie dem sozialistischen
Mangelsystem. Kein noch so unbedeutendes Detail entgeht dem scharfen Beobachter
Arno Schmidt, mit feinem Spürsinn für menschliche Schwächen und politische Lügen
entlarvt er gesellschaftlichen Irrsinn in beiden Teilstaaten. Dabei bedient er
sich einer fragmentierten Erzählweise, die im schmidt-typischen Layout durch
Absätze mit kursiv gesetztem Anfang und hängendem Einzug gekennzeichnet ist und
die sprachlich mit wahrhaft skurrilen Wortschöpfungen, elitären Fachbegriffen
und häufigen Dialektpassagen den Duden ad absurdum führt. Hat man sich in diese
Sprache erstmal eingelesen, staunt man über deren ungeheure Dichte, eine Seite
solchen Textes löst mehr Assoziationen aus, enthält mehr Reflexionen, Eindrücke,
historische Bezüge und intertextuelle Verweise als bei anderen Autoren ein
ganzer Roman.
Ein derartiges Leseerlebnis kann süchtig machen, der
literarische Genius von Arno Schmidt erhebt ihn heute schon zum Klassiker, er
wird als sprachlicher Solitär ja geradezu kultisch verehrt. Und so lädt auch
dieser vom Plot her brav linear und einsträngig erzählte Roman, der gegen Ende
sogar ein wenig Spannung erhält, seiner oft in inneren Monologen artikulierten
Sprachkunst wegen unbedingt zum Lesen ein. Dabei sollte man sich nicht, wie es
Walter Jens einst passierte (dann aber schnell revidiert!), vom ersten Eindruck
täuschen lassen, man sollte seine manifesten Leseerwartungen also einfach mal
hintanstellen.
5*
erstklassig - Bories vom Berg - 15. Januar 2017

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