GEORGES SIMENON
DER MANN,
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DER DEN ZÜGEN NACHSAH
Geschickt
kaschierte Trivialität
Die Literaturwelt kennt viele schillernde Persönlichkeiten
unter den Schriftstellern, der belgische Verfasser der Maigret-Romane Georges
Simenon gehört in deren erste Reihe. Als Vielschreiber reichte sein
literarisches Spektrum vom Groschenroman über Kurzgeschichten und Erzählungen
bis zu den erfolgreichen Kriminalromanen, die ihn berühmt und reich gemacht
haben. Nicht gelungen ist ihm der Durchbruch zum anspruchsvollen Roman, zum
echten literarischen Werk, wie er es selbst einst prophezeit hat: «Wenn ich
vierzig bin, werde ich meinen ersten wirklichen Roman veröffentlichen, und wenn
ich fünfundvierzig bin, werde ich den
Nobelpreis
erhalten haben.» Der zu jener Zeit, im Jahre 1938 veröffentlichte Roman «Der
Mann, der den Zügen nachsah» war ein vergeblicher Versuch in diese Richtung.
Kollegen und Kritiker sprachen von einem «Fall Simenon», dem Autor haftete trotz
bewundernswertem Erzähltalent mit seinem riesigen Œuvre zeitlebens der
Kolportageverdacht an.
Der vorliegende Krimi ist die psychologische Studie eines
Mannes aus dem mittleren Bürgertum, den der betrügerische Konkurs seines Chefs
völlig aus der Bahn wirft. Gutsituiert mit standesgemäßer Villa, braver
Familienvater und gewissenhafter Prokurist der größten Firma für Schiffsbedarf
in Groningen, heißt es im ersten Satz über ihn: «Abends um Acht war Kees
Popingas Schicksal noch nicht besiegelt, es wäre also noch nicht zu spät
gewesen.» Als das Undenkbare aber Gewissheit wird, entdeckt Kees den treulosen
Unternehmer in einer Spelunke und wird von ihm ganz unverblümt über den Bankrott
aufgeklärt. Er werde sich heute Nacht noch, einen Selbstmord vortäuschend, ins
Ausland absetzen, zum Abschied drückt der Chef Kees ein wenig Bargeld in die
Hand. Der beschießt, jetzt auch völlig ruiniert, denn all seine Ersparnisse
steckten in der Firma, ebenfalls ein neues Leben zu beginnen, sich aus seinem
drögen Alltag zu befreien.
Kees verschwindet klammheimlich Richtung Amsterdam, um dort
die Lebedame Pamela aufsuchen, die von seinem Chef ausgehalten wurde. Die aber
weist ihn ab, lacht ihn aus, er erwürgt sie daraufhin. Was folgt ist eine
odysseeartige Flucht, die ihn nach Paris führt, wo er in der festen Überzeugung,
intelligenter zu sein als seine Verfolger, als unauffällige Figur in den
Menschenmassen der Metropole untertaucht. Allmählich steigert er sich tiefer in
seinen Wahn hinein, die Zeitungsmeldungen, die er begierig liest, bezeichnen ihn
als schon Paranoiker. In einem ausführlichen Leserbrief erklärt er sein Motiv:
«Vierzig Jahre lang habe ich das Leben betrachtet wie ein armer kleiner Junge,
der mit der Nase am Schaufenster einer Konditorei klebt und den anderen zusieht,
wie sie Kuchen essen.» Was war mein Leben denn schon wert, fragt er sich,
welchen Sinn hatte es? Am Ende lässt Simenon ihn ziemlich theatralisch nackt und
ohne jede Habe als Selbstmörder scheitern, er landet in der Psychiatrie.
Die in einfachster Sprache erzählte Geschichte ist mäßig
spannend, lässt den Leser aber durch das Stilmittel des inneren Monologs über
weite Strecken an den Gedankengängen des als intelligent dargestellten
Protagonisten teilhaben. Nüchterne Logik ist für das Handeln des hervorragenden
Schachspielers Kees bestimmend, alles bleibt für den Leser nachvollziehbar,
sogar beim Zusammenbruch am bitteren Ende. Darin mag für Viele der Reiz dieses
Plots liegen, auch wenn das, was erzählt wird, vom Gehalt her im Grunde ziemlich
banal ist. Stilistisch aber und damit literarisch im Sinne einer Kunstform ist
das Ganze unterste Kategorie, mittelmäßige Kolportage, wie François Bondy
schrieb, die wie Simenons gesamtes Werk im Zwielicht bleibe. Und so ist denn
auch die Rezeption auffallend zwiespältig. Wer Kniffliges mag, sich lesend von
einem Bistro zum anderen begeben und Paris in alle Himmelsrichtungen
durchwandern will, der ist hier bestens bedient, literarische Gourmets hingegen
werden dieser geschickt kaschierten Trivialität nichts abgewinnen können.
1*
miserabel - Bories vom Berg - 20. August 2015

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