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Ortaia

Forum für niveauvolle Belletristik

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Randnotiz

9

 

Vom literarischen Gedächtnis

 

Durch Zufall fiel mir vor einiger Zeit eines jener grünen Bändchen mit Leinenumschlag und Goldprägung in die Hände, die ein langjähriger Buchleser, zumindest ein männlicher, sofort als ein Werk von Karl May erkennt. Das bunte Bild auf der Vorderseite des Buchumschlags zeigte Winnetou, den Häuptling der Apachen, in voller Schönheit. Und wie man das so macht, habe ich das Buch, es war Winnetou Band eins, einfach mal irgendwo aufgeschlagen, eine unwillkürliche Geste, ganz ohne Absicht. Mein Blick fiel auf eine Stelle, die mir bekannt vorkam, und ich fing an zu lesen:

 

Old Shatterhand steht mit seinem Begleiter Sam Hawkins am Marterpfahl, sicherlich eine der spannendsten Stellen in dem Buch, eine Zäsur auch im Verhältnis zu den Apachen, die später ja seine besten Freunde wurden. Nun könnte man meinen, diese Stelle wird wahrscheinlich am meisten gelesen, und das Buch hat sich genau deshalb dort aufgetan, aber dem war nicht so. Mein Bücherei-Exemplar war ziemlich neu und wies keinerlei Gebrauchsspuren auf, die Stelle war nicht abgehoben vom Rest. Ich las weiter: Als die Rothäute zur Tat schreiten und die beiden Bleichgesichter auf ihre Leidensfähigkeit hin prüfen wollten, riss sich Old Shatterhand plötzlich los. Er hatte die Fesseln vorher schon gelöst und nur auf einen günstigen Augenblick gewartet, um zu fliehen. Mit einem Satz sprang er in den vorbei fließenden Fluss, die Indianer folgten ihm mit wildem Geheul. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt, aufgeregt liefen sie am Ufer hin und her, - keine Spur von ihm, sie waren ratlos. Unser Held war ins Schilf getaucht und hatte unter Wasser ein Schilfrohr abgeknickt, das er nun wie einen Schnorchel zum Luftholen benutzen konnte, so blieb er unentdeckt.

 

All das wusste ich bis ins Detail, als ob ich es gestern erst gelesen hätte. Es war aber nicht gestern, es war vor mehr als sechzig Jahren, ich war noch Schüler damals. Diese Textstelle ist etwa zwei Seiten lang, ich war verblüfft, wie vertraut sie mir war, fast Wort für Wort, so kam es mir jedenfalls vor. Und ich muss hinzufügen, ich habe das Buch seit jenen Schülertagen nie mehr in der Hand gehabt, nie eine Verfilmung gesehen und war auch nie in Bad Segeberg, es gab also keine Auffrischung meiner Erinnerung. Eine verblüffende Fähigkeit, die wohl ähnlich in unser aller Langzeitgedächtnis angelegt ist, das im Alter ja bekanntlich zur Höchstform aufläuft.

 

Nichts gegen Karl May übrigens, den erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Sprache. Mit weltweit mehr als 200 Millionen Auflage wäre der Mann heute steinreich. Und das kann man eben nur durch Trivial-Literatur werden, man sehe sich mal die heutigen Auflage-Giganten auf ihre literarische Qualität hin näher an! Gleichwohl hat dieses triviale Buch derart tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Zudem hat es meine Lust aufs Lesen schon sehr früh geweckt, auch wenn ich sie heute erst, als Pensionär, so richtig ausleben kann.

 

PS

Und eins noch, der erste Satz in Winnetou Band 1 lautet: «Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet?»

 

 

 

 

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