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Anti Karenina
Der von mir überaus geschätzte und leider viel zu früh verstorbene Roger Willemsen hat in der Fischer-Anthologie mit dem Titel «Mein Klassiker» und dem Untertitel ‹Autoren erzählen vom Lesen› einen bemerkenswerten Beitrag geschrieben, der den für mich verstörenden Titel «Anti-Karenina» trägt. Verstörend deshalb, weil dieser von mir schon zweimal gelesene Jahrhundert-Roman zum Besten zählt, was mir beim Lesen jemals untergekommen ist. Ein Schock also für den Karenina-Fan, und natürlich ein guter Grund, Willemsens schon vom Titel her negativen Beitrag aufmerksam zu studieren! Denn ich ahnte schon, hier könnte sich womöglich aus dem Vergleich der Argumente für und wider eine allgemein gültige, literarische Erkenntnis gewinnen lassen.
Also frisch ans Werk! Zunächst mal habe ich meine Rezension der «Anna Karenina» von 2014 unter dem Titel «Literarische Zauberei» gelesen. Sie wurde von einem meiner Leser kommentiert, der den Roman inzwischen viermal gelesen hat und dem die Heldin noch immer rätselhaft ist. Und dann habe ich mich drangemacht, den Beitrag von Willemsen aufzudröseln. In seiner Kritik konstatiert er zunächst, dass Tolstois Roman gegenüber vergleichbaren wie «Madame Bovary» oder «Effi Briest» am meisten an Prägnanz eingebüßt habe. Er könne den Kernkonflikt nicht identifizieren, die Figurenkonstellation nicht rekapitulieren, er sei ratlos bei einem Gesellschaftsroman, dem eine «tiefenscharfe» Abgrenzung der Klassen fehle. Auch dass keine Soziolekte gesprochen werden sei ein unverzeihlicher Fehler, und Realismus werde hier allenfalls in journalistischer Form vorgetragen. Die psychologischen Impulse seien vor allem durch Stolz und Scham geleitet, zudem werde in keinem Roman so viel errötet wie hier. Er vergleicht das Buch im Resümee mit «einer eher unvorteilhaft gealterten Schönheit».
Schön und gut, an alldem mag was dran sein, man könnte allerdings bei den von Willemsen genannten, vergleichbaren Romanen von Flaubert und Fontane ähnliche Einwände vorbringen. Sind die auch unvorteilhaft gealtert? Ich sehe nämlich bei Tolstois Konkurrenz nicht mehr Prägnanz, worin sollte die denn eigentlich bestehen? Der ‹Kernkonflikt› ist eindeutig Ehebruch bei allen dreien, auch die Figuren sind bei Tolstoi nicht weniger stimmig beschrieben, und was die Abgrenzung der Klassen betrifft spielt Tolstois Meisterwerk in der Oberschicht, auch wenn ab und zu mal einer von Lewins Bauern zu Wort kommt. Was würde es denn bringen, wenn man ihn die wenigen Worte in seinem ländlichen Dialekt (Willemsen spricht von Soziolekt) sprechen lässt? Er ist auch ohne Mundart eindeutig als einfacher Bauer zu erkennen! Und ist der Realismus wirklich nur journalistisch vortragen in diesem Roman? Was ist gegen Stolz und Scham einzuwenden, und was gegen das Erröten? Wirklich zustimmen kann ich Willemsen tatsächlich nur in einem unwesentlichen Punkt, dass nämlich eindeutig Kostja Lewin die tragende Figur ist und nicht die im Titel genannte Karenina. Und noch etwas ist anzumerken: Vladimir Nabokov hat in den unter dem Titel «Die Kunst des Lesens» veröffentlichten Niederschriften seiner literaturwissenschaftlichen Vorlesungen mit fast hundert Seiten gerade diesem Roman den breitesten Raum gewidmet und seine Einmaligkeit an vielen Details erläutert, so ganz misslungen kann Anna Karenina also doch nicht sein. Was folgt nun aus alledem, welches Fazit lässt sich ziehen?
In jedem Fall eines: Jeder Leser geht mit seinen eigenen Vorstellungen, seinen individuellen Präferenzen für Thematik, Milieu oder Stil an seine Lektüre heran, aber natürlich auch mit seinen Erwartungen an Unterhaltungswert, Erkenntnis-Gewinn oder Traum-Potential. Ein Roman-Klassiker mag noch so hoch gelobt sein, er wird enttäuschen, wenn in ihm dieser ureigene, subjektive Wunschzettel nicht möglichst vollständig abgearbeitet wird. Und noch eine weitere Erkenntnis kann man aus der konträren Rezeption gewinnen: Anders als Willemsen hat mir Anna Karenina nach dem zweiten Lesen, viele Jahre nach der Erstlektüre, noch viel besser gefallen als vorher. Es kommt also auch auf den Zeitpunkt an, wann und in welcher Lebens-Situation man ein Buch liest.
«Du bist wohl mit dem linken Fuß aufgestanden», diese volkstümliche Redewendung weist, hier mal auf die Spezies des Literatur-Kritikers angewendet, sehr anschaulich auf eine situationsbedingte Aufnahme-Fähigkeit und -Willigkeit hin, auch Tagesform und Laune beeinflussen ein Urteil beträchtlich. Es sind eben auch diese menschlichen Faktoren, die hier mit am Werke sind. Eine absolute Wahrheit gibt es in der Literatur-Wissenschaft jedenfalls nicht, sie gehört ja auch mitnichten zu den exakten Wissenschaften! Und so habe ich 2015 denn spaßeshalber mal zwei völlig gegensätzliche Rezensionen über den Roman «Reise im Mondlicht» von Antal Szerb geschrieben (bei einer war der sprichwörtliche linke Fuß im Spiel) und sie dann einander gegenüber gestellt. Damit wollte ich exemplarisch noch so plausibel vorgebrachte Kritiken in ihrer Subjektivität entlarven. Denn die war letztendlich beim hochverehrten Roger Willemsen ebenso im Spiel wie bei meiner Wenigkeit!
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