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Man glaubt es nicht
Bei den Recherchen zu meinen Buchbesprechungen, aber auch durch Leserbriefe stoße ich gelegentlich auf Merkwürdiges. So fand ich vor einigen Monaten auf Wikipedia eine Buchbesprechung, die alle Dimensionen dieser ansonsten so hilfreichen Internet-Plattform sprengt. Es ging in diesem merkwürdigen Fall um den Roman «Ich an meiner Seite» der österreichischen Schriftstellerin Birgit Birnbacher. Das Feuilleton hat dieses Buch überwiegend positiv besprochen, ich hatte einiges zu kritisieren, aber das soll hier nicht das Thema sein. Was mich umgehauen hat, das war die Wikipedia-Seite selbst, die sich diesem eher mäßigen Roman widmet. So einen Beitrag hatte ich noch nie gesehen, und ich schaue mir ja immer an, was dort über einen Autor und gegebenenfalls über sein Buch geschrieben steht. In diesem Fall wird im Umfang von umgerechnet nicht weniger als 10 DIN A4-Seiten, was genau 38.496 Buchstaben inklusive Leerzeichen entspricht, der Roman regelrecht in mikroskopische Bestandteile zerlegt. Man glaubt es nicht! Meine eigenen Rezensionen sind auf maximal 4000 Zeichen begrenzt, entsprechend einer einzeilig beschriebenen DIN A4-Seite. Aber manchem meiner Literatur-Freunde sind selbst diese Besprechungen schon zu lang, die wollen möglichst auf fünf Zeilen erfahren, was über ein Buch zu sagen ist.
Verblüfft nachforschend bin ich dann dort auch noch auf eine interne Diskussion gestoßen, in der über diesen alle Dimensionen sprengenden Artikel wegen seiner schieren Länge kontrovers diskutiert wurde. Ich bin kein Wikipedia-Experte, kenne mich mit all den Interna überhaupt nicht aus und habe die Diskussion dazu jetzt auch nicht mehr gefunden auf dieser Seite. Dafür aber gleich zum Beginn des Beitrags diesen Hinweis: «Dieser Artikel ist nicht hinreichend mit Belegen (beispielsweise Einzelnachweisen) ausgestattet. Angaben ohne ausreichenden Beleg könnten demnächst entfernt werden. Bitte hilf Wikipedia, indem du die Angaben recherchierst und gute Belege einfügst». Auf das diese minutiöse literarische Analyse noch weiter anwachse! Es lohnt sich, diese monströse Wikipedia-Seite mal zu besuchen.
Auf einen zweiten, auf andere Art ebenfalls merkwürdigen Fall wurde ich durch einen Leser-Kommentar zu meiner Rezension von «Goldene Jahre» des Schweizer Autors Arno Camenisch aufmerksam. Unter dem Titel «Ironisches Requiem» hatte ich den Roman mit drei von fünf Sternen als lesenswert eingestuft, weil er auf sehr amüsante Weise über eine untergehende, schon fast verschwundene Idylle berichtet, den Kiosk an der Straße. Der anonyme Leser schrieb mir: «Das kann man auch rationaler sehen, wie die Rezension hier ...(Glarean Magazin)... beweist», er bezeichnete das Buch als unterirdisch. Und in dem Schweizer Kulturmagazin wird dieses Buch tatsächlich nicht etwa verrissen, es wird regelrecht vernichtet, und die gesamte Schweizer Literatur gleich mit. Wer in einem so offensichtlich satirischen Roman kleinlich nach sachlichen Fehlern sucht wie der Verfasser dieser ebenso ausufernden wie gehässigen Schmäh-Kritik, der sollte sich aber selbst keine Fehler leisten! Wie den zum Beispiel, wenn er aus dem Roman den Satz zitiert: «Das ist wie ein Auto mit drei Rädern» und dann besserwisserisch kritisiert: «... gerade die beiden Geschäfts-Partnerinnen am Kiosk mit Tankstelle seit 1969 sollten wissen, dass es dreirädrige Autos gab und gibt – bis in die 1970er-Jahre hinein war zum Beispiel die BMW Isetta noch oft im Straßenbild zu sehen». Genau, aber die BMW Isetta, der Hundetöter, wie wir sie auch nannten, weil kein überfahrener Hund je lebend darunter hervorkam, was glücklicherweise bei anderen Autos zuweilen geschah, diese Isetta hat eben vier Räder! Die hinteren zwei Räder stehen nur enger zusammen (Radstand 1200/520 mm), und eines davon hat den armen Hund dann immer erwischt. Dieser unduldsame Rezensent entblödet sich auch nicht, an anderer Stelle bedeutungsschwer zu monieren: «Dem Autor aber scheint so etwas egal zu sein; in einem Interview wundert er sich sogar, dass es das Fruchtbonbon ‹Sanagol›, das 2020 im Buch noch gelutscht wird, seit 2002 nicht mehr gibt». Auch ja, das Fruchtbonbon, man glaubt es nicht! Gegen diesen shitstorm-ähnlichen Rundumschlag mit mehr als einem Dutzend ähnlich ‹schwerwiegender› Beanstandungen war Marcel Reich-Ranickis berühmter Verriss von Martin Walsers «Jenseits der Liebe» geradezu ein laues Lüftchen.
Ich habe meinem Kommentator, der sich mit seinem unterirdisch diese völlig unangemessene, abartige Schmäh-Kritik ja offensichtlich zu eigen gemacht hat, Folgendes geantwortet: «Danke für Ihren Kommentar. Man kann immer alles anders sehen, sollte aber ein so offensichtlich satirisches Werk der Belletristik nicht mit rationalen Maßstäben messen wie ein Sachbuch und nach inhaltlichen Fehlern darin suchen! Die gibt es nämlich nicht in fiktionalen Werken, da ist de facto alles erlaubt».
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