Ein
Glücksfall der Gegenwartsliteratur
Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an
den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden
Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück,
dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt
abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst
dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem
Leben seines Großvaters, um die herum er einen
klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die
Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide
politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem
schicksalhaften Roman-Geschehen.
«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und
warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg
liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem
epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine
graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den
Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal
damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie
umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so
schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April
1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte
von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, - er hat ihr genau diese Klingel kurz nach
ihrer ersten Begegnung ans
Fahrrad montiert.
Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon
in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet,
als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern
angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene
Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein
eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre
später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro
Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach
einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons
Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise
dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt
sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes
Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird
nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.
Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem
ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst
unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in
den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen
Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung
des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich
gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen,
selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen.
Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos
gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief
die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen
Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen
Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die
Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören.
Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden
bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und
entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug,
sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des
Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe
festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht
entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch
ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer
angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer
wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen
Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.
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